26 Jahre ist sie im Kreis gelaufen. Immer links herum. Das Gleiten auf spiegelglattem Untergrund bestimmte den Rhythmus ihres Lebens. Das ist vorbei. Sabine Völker wird nie wieder einen Eis-Wettkampf bestreiten.
ERFURT. Die Schlittschuhe liegen noch da, wo sie schon immer gelegen haben. Im Bettkasten, in der Nähe von Trainings-Klamotten und Wettkampf-Utensilien. Die Schuhe hatte sie letztmals am 19. Februar 2006 in Turin geschnürt. Es war kein schöner Tag für die Erfurter Sprinterin. Über 1000 Meter lief sie bei den Olympischen Spielen nur auf den 21. Rang. Vier Jahre zuvor war sie Zweite über diese Distanz gewesen und hatte dazu in Salt Lake City noch zwei weitere Medaillen geholt. Die Erinnerungen daran verursachen noch heute Gänsehaut bei ihr. “Olympia 2002 war mein Höhepunkt als Sportlerin.”
Dass sie jetzt den Schluss-Strich gezogen hat, lag nicht am Abschneiden in Italien. “Ich hätte mich ebenso entschieden, wenn ich andere, bessere Platzierungen erreicht hätte.” Sabine Völker erwähnt nicht, dass sie sich auch in Turin mit Gold schmücken konnte – im Teamlauf. Doch da sie lediglich im ersten Rennen eingesetzt wurde, sieht sie ihren Anteil am gemeinsamen Sieg nur als klein an. Dabei wurde ihre Ehrlichkeit allseits groß gewürdigt, denn sie verzichtete freiwillig auf weitere Einsätze, da sie sich “platt” gefühlt hat.
Doch solche Episoden passen zu ihrer zurückhaltenden, bescheidenen Art, die von viel Gefühl und Sensibilität begleitet wird. Vielleicht blieb ihr durch das häufige Versinken in Gedanken, die oftmalige Beschäftigung mit Problemen anderer Menschen, auch der ganz große Triumph verwehrt. Doch Sabine Völker hadert nicht damit, eventuell etwas verpasst zu haben. “Ich habe ja fast alles erreicht, was man als Sportlerin schaffen kann.”
Sie hat zahlreiche Höhen erlebt, aber auch manche Tiefs durchgemacht. Die verlorene Qualifikation für die Spiele 1994, als sie Klubkameradin Anke Baier in einer internen Ausscheidung knapp unterlag, sei “sicherlich der schlimmste Moment” gewesen. Viel Kraft hätte auch die Leidenszeit im Winter 2003/04 gekostet. Lebensmittelvergiftung, Blasenentzündung und chronische Rückenbeschwerden quälten die Erfurterin, elf Antibiotika-Kuren in eineinhalb Jahren musste der Körper verkraften. Und obwohl sie sich manchmal fühlte “wie vom Bus überrollt”, lenkte sie der Wille und der Trotz zurückzukehren. Mit Erfolg.
Sabine Völker wollte sich nicht damit abfinden, fast ganz oben angelangt zu sein und plötzlich fremdgesteuert aus der Welt des geliebten Sports und des Wettbewerbs herausgerissen zu werden. Den Zeitpunkt wollte sie bestimmen. Allein.
Jetzt ist er gekommen. Ohne Wehmut. “Seit ich mich dazu durchgerungen habe, gab es noch keinen Tag der Reue.” Nein, irgendwie wurde es Zeit für den Schritt, findet die 33-Jährige. Die Motivation würde fehlen, die notwendige Fitness von Kopf bis Fuß auch. Und so fühlt sie sich durch die Entscheidung vom Eise befreit. Man dürfe den richtigen Zeitpunkt für das sportliche Ende schließlich auch nicht verpassen. Es sei zuletzt immer schwieriger geworden, die vielen Reisen und die wenigen Tage in der Heimat zu akzeptieren. Das Vagabundenleben eines Athleten, der kreuz und quer monatelang auf den Kontinenten unterwegs ist, störte das Wohlbefinden mehr und mehr. Die Kameradinnen und Konkurrentinnen wurden stets jünger, “Distanz, die automatisch auch weniger Gesprächsthemen brachte”.
Außerdem würden nun neue Herausforderungen warten, die könnten genauso reizvoll wie die Jagd nach Edelmetall sein. Als Betriebswirtin, die ihr Diplom während der sportlichen Karriere gemeistert hat, fällt sie in kein Loch. Derzeit ist Sabine Völker bei einem Thüringer Energie-Anbieter angestellt, aber auch andere Möglichkeiten stehen offen. Das Danach ebnete sie mit ebensolchem Ehrgeiz wie im Eis-Oval. “Ich freue mich darauf, auch beruflich zu zeigen, dass ich etwas kann.”
Der Sport wird allerdings nicht vollkommen aus ihrem Leben verschwinden. “Den kann man gar nicht von einem auf den anderen Tag streichen.” Sie müsste ja auch darauf achten, ordentlich abzutrainieren. Am häufigsten auf dem Rad oder joggend, am liebsten mit Hündin Darleen.
Für Sabine Völker muss nicht der Sport der Weg zum Glück sein. Das Laufen im Kreis, auf Eis, ständig links herum – das war einmal. Für immer.
Von Gerald MÜLLER
Erschienen in der “Thüringer Allgemeinen” vom 2. Juni 2006
Veröffentlichung mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
Foto: Lars Hagen
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